Text: Markus Zeidler; Fotos: Sportfreunde Attl
Die Sportfreunde Attl treten beim 6ten Simssee Halbmarathon geschlossen hinter die Startlinie, sind auf den Punkt topfit und erreichen nach 21,0975 Kilometern allesamt glänzende, neue individuelle Bestzeiten – die Ambitionen für das letzte grosse Laufevent der Saison sind alles andere als bescheiden. Die praktische Umsetzung aber funktioniert noch nicht einmal ansatzweise: Krankheit, Krämpfe, Kreislauf-Kollaps, Konditions-Crash und nicht zuletzt die eigene menschliche Drangsal pulverisieren sämtliche hehren Pläne gnadenlos. Wenigstens bis zur Hälfte des Wettkampfs stehen die Zeichen noch richtig gut. Streng genommen eigentlich nur bis Kilometer sechs. Dabei ist die Motivation für die Sportfreunde so gross wie kaum jemals zuvor: schliesslich soll es „saures Lüngerl“ geben, frisch zubereitet von Rolands Mama höchstselbst.
Könnte man sich perfekte Rahmenbedingungen für einen Halbmarathon konfigurieren, würde wahrscheinlich
der 19. Oktober 2013 am Simssee in der Gemeinde Riedering im Landkreis Rosenheim herauskommen:
Schmeichelhafte 15 Grad Celsius, Sonnenschein, ein motiviertes Publikum, Kuhglocken und Sambatrommler; spätsommerliche Milde über einem anmutig ruhenden See, eingerahmt in kräftige Erdtöne vor stahlblauem Himmelsdekor. Dies werden nahezu die einzigen Dinge sein, die am Ende des Tages in der „Positiv“- Auflistung im Protokoll der Sportfreunde Attl stehen werden. Das „Negativ“- Pendant rechts daneben füllt sich schon lange vor dem Startschuss, beginnend mit der sukzessiven Dezimierung des Teams. Martin Kerscher: beruflicher Auslandseinsatz. Der Mann, der schneller Laufen kann als sein Schatten, muss seine Feierabendrunden zum Zeitpunkt des Simsseelaufs in der italienischen Provinz drehen, zwischen endlosen Reisfeldern vor grandioser Mailänder Industrie-Kulisse.
Martin Lindner, Roland Schoderer: Unpässlich. In den Begründungen ihrer unabhängig voreinander erfolgenden Absagen wenige Tage vor dem Halbmarathon spielen solch unglamouröse Begriffe wie „Schüttelfrost“, „Durchfall“ und „bröckeliger Auswurf“ eine zentrale Rolle. Immerhin: Bis zum Startschuss sind beide wieder fit genug, um den Lauf wenigstens auf dem Fahrrad begleiten und diesen fotografisch dokumentieren zu können.
Von acht möglichen „Attlern“ gehen letztlich fünf an den Start – vier davon werden das reale Ziel auf den eigenen Beinen erreichen. Das imaginäre im jeweiligen Kopf dagegen: kein Einziger.
Die Strecke um den Simssee herum ist eine echte Herausforderung: vom Start in Moosen aus geht es auf schnellem Asphalt lange bergab, bevor man nach unzähligen kleinen Rampen und Hügeln mit oftmals wechselndem Untergrund schliesslich der gefürchteten Schlüsselstelle des Rennens gegenübersteht: dem gefühlt senkrechten Hirnsberg, der dem Körper nach 19 gelaufenen Kilometern mit sadistischer Genugtuung auch noch die letzten Kraftreserven aus den geschundenen Beinen wringt.
Den Berg laufend oder gehend zu bewältigen ist eine Frage, die sich den allermeisten Teilnehmern in diesem späten Stadium des Rennens erst gar nicht mehr stellt. Auch nicht Simone: Sie kippt nämlich vorher um. Bei Kilometer sechs, gerade eben die erste Verpflegungsstelle durchlaufend. Man kann sich vielleicht die Verblüffung jener Zuschauer und freiwilligen Helfer vorstellen, die vom Streckenrand aus das Rennen beobachten und dabei Zeuge folgender Szene werden: eine attraktive junge Frau, gewandet in ein leuchtend blaues Trikot mit der Aufschrift „Sportfreunde Attl“ und einer farblich dazu abgestimmten Häkelmütze, trabt leichtfüssig über den staubigen Feldweg heran und hält zielstrebig auf die flankierenden Biertische mit den bereitgestellten Getränken zu; sie strahlt übers ganze Gesicht, so als ob nichts auf der Welt sie erschütternd könnte; verlangsamt ihr Tempo, bleibt schliesslich stehen, greift einen Becher Wasser ab, trinkt diesen in einem Zug leer, nickt anerkennend in die Runde –
und klappt dann völlig unvermittelt in sich zusammen, nicht unähnlich einem dieser lustig flatternden Werbe-Windmännchen, das man eben mal von der Steckdose nimmt.
Kreislaufkollaps, wie sich nach Verstreichen der ersten Schrecksekunden herausstellt. Keine Sache, die man sich ohne Weiteres auf den Wunschzettel schreiben würde - aber auch nichts, was sich nicht mit ein wenig Schatten, hochgelagerten Beinen und einem Schlückchen Prosecco wieder in den Griff bekommen ließe. Nur der Lauf, der ist eben gelaufen. Simone wird auf der Rückbank eines Feuerwehreinsatzfahrzeuges zurück nach Moosen chauffiert - und schafft es auf diese Weise immerhin, als erste „Attlerin“ wieder zurück im Ziel zu sein.
Innerhalb der tagesaktuellen Sportfreunde-Selektion als Erster die Ziellinie laufend zu überqueren, ist zweifellos Stefans Aufgabe. Diese erfüllt er dann auch souverän – scheitert aber trotz perfekter Vorbereitung und der gegenwärtig läuferischen Topform seines Lebens an der eigenen Messlatte. Obwohl er – es ist die blanke Ironie – ausgerechnet am Hirnsberg wertvolle Zeit wettmachen kann, trennt ihn ein zuvor erlittener konditioneller Einbruch um mehr als drei Minuten von seiner 1:30:00er -Kampfansage.
Als Nächster ist Marco an der Reihe. Sichtlich derangiert, wie Martin‘s schonungslose Videoaufnahmen später belegen, erreicht er das Ziel zweiundzwanzig Minuten später als Stefan. Obwohl er mit einer starken ersten Hälfte überzeugen kann, vermag er es nicht, das Ding bis zum Schluss durchzuziehen und bleibt ebenfalls deutlich hinter den eigenen Erwartungen zurück. Die Negativ-Diskrepanz zwischen Vornehmen und Erreichen ist ein roter Faden, der sich an diesem Tag konsequent durch die Reihen der 5 Halbmarathonisti zieht.
Das Video zum Event:
Sportfreund Martin hat sich die Mühe gemacht
und ein paar Sequenzen des Simssee-Halbmarathons zusammengeschnitten.
Bewundern könnt ihr das Ergebnis, wenn ihr
rechts nebenan auf die Klappe klickt!
Wer sich jemals die Frage gestellt hat (hat natürlich niemand; aber irgendwie muss der Autor dieses Artikels ja die Brücke zum folgenden Absatz schlagen – Anm. der Red.), ob manche Jogger wohl deshalb ein paar Bogen Toilettenpapier im Trikot-Täschchen mit sich führen, weil sie ihr Geschäft nicht zu Hause, sondern lieber draussen im Wald verrichten, muss dazu vielleicht folgendes wissen:
Bei den meisten Menschen wird durch längeres Laufen der gesamte Verdauungsapparat dahingehend animiert, seine Aktivitäten lebhaft zu beschleunigen. Unter Umständen kann es also schon mal vorkommen, kilometerweit von zuhause entfernt eine mehr oder weniger dringliche Bedarfsmeldung seines Körpers zu erhalten, sich demnächst entleeren zu müssen. Besonders dann, wenn man die fatale Fehlentscheidung getroffen hat, unmittelbar vor dem Losrennen noch einen Happen zu essen – schlimmstenfalls Kohlehydratgels oder vergleichbare klebrige Substanzen, die zwar leistungsunterstützend, aber nebenher leider auch stark abführend wirken.
Die Tragweite dieses Umstandes spielt im Training natürlich eine weniger gewichtige Rolle; bei entsprechender Befindlichkeit dürfte sich in den meisten Fällen ein halbwegs adäquates, publikumsarmes Plätzchen in freier Natur finden lassen, und natürlich gibt es keine offizielle Wertung, auf die sich der entstehende Zeitverlust negativ auswirken könnte. Ganz anders natürlich im Wettkampf. Denn Erstens: es gibt auf der Strecke nur selten offizielle Toiletten; und wenn, dann garantiert nicht dort wo man sie gerade am dringendsten benötigt. Ein Abstecher in die Büsche scheidet häufig aus (na, Wortspiel bemerkt?), weil man A) praktisch nie ohne Zuschauer ist und B) es gerade bei City-Läufen noch nicht einmal Büsche gibt. Zweitens: die Uhr dreht sich weiter. Auch im Sitzen.
Die langen Schlangen an den Toilettenhäuschen im Startbereich eines jeden Laufevents lehren uns: Der Besuch im „Dixie“-Land zeitnah vor dem Start ist nicht bloss zu empfehlen – sondern von geradezu monumentaler Wichtigkeit. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Folgen des Zusammenwirkens verschiedener ungünstiger Umstände kann man übrigens begutachten, wenn man in seine Suchmaschine die Begriffe „Marathon“ + „Durchfall“ eingibt.
All dies weiss selbstverständlich auch Sportfreund Markus.
Doch obwohl er alle präventiven Regeln im Hinblick auf unliebsame Überraschungen während des Wettkampfs befolgt, sucht ihn ab etwa Kilometer neun dennoch die schier unerbittliche Drangsal heim, sich bei der nächsten sich bietenden Möglichkeit zu entleeren. Doch diese Möglichkeit gibt es nicht am Simssee. Keine Büsche, kein Toilettenpapier, umso mehr Zaungäste. Die Lage ist ernst, sehr ernst. Bald schon fällt Markus seinen Mit-Läufern dadurch auf, dass er immer wieder stehenbleibt, ein wenig auf der Stelle herumdruckst, eigenartige Entspannungsübungen ausführt und anschliessend wieder ein gutes Stück des Weges marschierend zurücklegt.
Dass er seiner Vorjahreszeit inzwischen nicht einmal mehr im Entferntesten nahekommen kann, ist dem arg in Bedrängnis Geratenen inzwischen egal. Markus' neues Primärziel ist keine Bestzeit - sondern nicht als bizarres Suchergebnis in Google zu landen.
Gnädige Erlösung findet er erst nach quälend langen Kilometern, bei der letzten Verpflegungsstelle des Rennens, wo ihn ein barmherziger Anwohner – Gott selbst möge den Mann dafür segnen - in dessen privates Badezimmer einlässt.
Oberhalb des Hirnsbergs haben sich Roland und Martin mit ihren Kameras postiert, um ihre Kameraden auf der finalen Meile gehörig anzufeuern. Mehr als zwei Stunden nach dem Startschuss erspähen sie von ihrer Warte aus Sportfreund Flo. Es ist kein sehr erhebender Anblick: Kräftemässig bankrott und gepeinigt von Hungerast und Muskelkrämpfen, kämpft sich dieser über die letzte steile Rampe in Richtung Zielgeraden hinauf. Wenn man sich ihm bis auf etwa einen Meter nähert, kann man seine Knie klicken hören. Bei seiner Halbmarathon-Premiere zwei Jahre zuvor konnte Flo noch mit einer beeindruckenden Zeit von 1:40:00 glänzen. Dass er heute für die gleiche Strecke beinahe dreissig Minuten mehr benötigt, markiert das letzte Kapitel in einer langen Chronik des Scheiterns, die die Sportfreunde Attl an diesem Tag schreiben.
Einen versöhnlichen Abschluss findet der Simssee-Halbmarathon 2013 dann dennoch.
Und das ist allein der Verdienst von Rolands Mama Petra. Sauers Lüngerl ist mit Sicherheit nicht jedermanns Geschmack, und es zeichnet sich zugegeben auch nicht durch ein sehr gewinnendes Äusseres aus. Aber es ist das kleine Stückchen Trost, die Befriedigung, das kleine Erfolgserlebnis, das die gebeutelten Sportfreunde so sehr benötigen. Und aus dem Schoderer’schen Kochtopf serviert ist es ohnehin eine Offenbarung.
Petra, die Sportfreunde liegen Dir zu Füssen.