Text: Markus Zeidler; Foto: Sportfreunde Attl
„Eier. Es braucht Eier, um einen Marathon zu bestehen. Und eisenhartes Training!“
Die Antwort auf die Frage, welche Voraussetzungen man denn zu einem Marathon mitbringen müsse - gelesen im Interview eines grossen Laufsportmagazins – ist ebenso kernig wie treffsicher. Denn die Wahrheit ist: 42,195 Kilometer am Stück zu laufen ist nichts für Warmduscher. Erst recht nicht, wenn die Dusche tatsächlich kalt ausfällt - und man ebenjene Distanz im Regen zurücklegen muss, so wie beim 30ten HASPA Hamburg Marathon.
Aber nicht nur bei miesem Wetter, sondern auch trotz gesundheitlicher Defizite zu starten oder gar mit der verwegenen Absicht, den Langstrecken-Zirkus versuchshalber einfach mal ohne das dafür eigentlich ja unabdingbare „eisenharte Training“ zu rocken, verlangt nicht nur Eier – sondern ein ganz besonders ausgeprägtes Maß an Trotzigkeit. So eines, wie es unter anderem den Sportfreunden Attl nachgesagt wird...
Etwa zwanzigtausend Läufer haben sich auf der Karolinenstrasse vor den Hamburger Messehallen eingefunden und warten auf den Countdown. Der Geruch von Muskelöl, Wundschutzcreme und Adrenalin liegt in der Luft. Es ist kurz vor neun Uhr Vormittags. Tausende Sportuhren an ebenso vielen Handgelenken werden in diesem Augenblick auf Null gesetzt. Die Temperaturen bewegen sich gerade so im zweistelligen Bereich, der Himmel ist grau wie Blei und soeben hat es zu allem Überfluss auch noch angefangen zu regnen. Immerhin zwei Stunden später als vom Wetterdienst prognostiziert. Das Publikum ist trotzdem voll bei der Sache. „Du packst das, Onkel Theo!“ orakeln die handgemalten Letter auf einem riesigen Transparent; „Lass die Schwarte krachen, Chrissie!“ ermuntert ein bunter Pappkarton und „Nicht aufgeben!“ gemahnen gleich mehrere bunte Fähnchen. Wummernde Anheiz-Hymnen attackieren die Menschenmassen aus riesigen Lautsprechertürmen heraus. Dazwischen mischen sich Wortfetzen eines Offiziellen; es sind vermutlich Dankesworte an die Organisation, die Sponsoren, vielleicht auch letzte Instruktionen – die Inhalte gehen im wabernden Soundteppich gnadenlos unter. Kameras surren, Hubschrauber kreisen.
Es ist der erste grosse Wettkampf des Jahres 2015 für uns, für die Sportfreunde Attl. Neben mir im dichten Gedränge tummeln sich Simone, Gabi, Roland und Stefan. Und noch etwas weiter daneben eine überlebensgroße Getränkedose aus Schaumstoff, aus der unten zwei Beine und rechts und links jeweils ein Arm herausragen. Unsere Delegation ist zahlenmässig weit weniger umfänglich als geplant: Erkältung und Gelenkprobleme haben den einen Teil der Freunde, die eigentlich heute mit uns laufen wollten, ausgeschaltet - kalte Füsse den anderen. Immermalwieder-Sportfreundin Gabi, die heute ihre Premiere auf der Langdistanz feiert und schliesslich mit Bravour bestehen sollte, erkundigt sich danach, wo genau denn die Zeitmessung einsetze. Simone zeigt auf einen etwa Einfamilienhaus-grossen Bogen mit zwei leuchtenden digitalten Chronometern und der Aufschrift START.
Wenige Sekunden noch, dann ist es soweit. Ich habe mich mental aus der Gegenwart ausgeklinkt und lasse mich von den Led Zeppelin-Gitarrenquälern in meinen Ohrstöpseln auf die bevorstehenden Stunden des Leidens einpeitschen.„Drei!... Zwei!... Eins!... Kawumm!“ The levee breaks. Hamburg explodiert.
Trotzigkeit, die Erste: Sportfreund Roland.
Die Dreissig-Kilometer-Marke kennzeichnet sehr oft die Schlüsselstelle eines Marathons. Hier nämlich wird bei den meisten Sportlern der Mann mit dem Hammer vorstellig. Alles davor: im Grunde genommen nur Prolog. Es ist der Punkt, an dem sich jedes Defizit in der Vorbereitung, jeder noch so kleine, scheinbar lapidare und oftmals unbemerkt begangene Fehler innerhalb der vorangegangenen Tage unerbittlich rächt. Zu lange Trainingseinheiten in zu kurzem zeitlichen Abstand zum Start etwa sind so ein Fehler. Sportfreund Roland muss dieser Tatsache liegend ins Auge blicken, von einer der Massagebänke am Streckenrand aus. Zehn Kilometer vor dem Ziel. „Die sind ja hart wie Stein!“ meint ein verblüffter Physio, als er seine Hände auf zwei laktatgesättigte, brenndende Oberschenkel legt. „Um ehrlich zu sein – da kann ich im Moment überhaupt nichts gegen tun. Am besten wird wohl sein, Sie traben den Rest einfach ganz locker zu Ende...“ Nun, während eines Wettkampfes locker zu Ende traben und Sportfreund Roland passen ebenso wenig zusammen wie hellhäutige Läufer und ein Siegerpodest. Dass der Mann dem guten Rat des Therapeuten selbstverständlich nicht Folge leistet, ist überflüssig zu erwähnen – und stattdessen das Ziel trotz des unerwarteten Boxenstopps nach starken drei Stunden und fünfunddreissig Minuten erreicht.
Rennend, nicht trabend.
Trotzigkeit, die Zweite: Sportfreund Markus.
Nicht der Mann mit dem Hammer, sondern die Symptome einer sich anbahnenden Erkältung sind es, die mich nach dreissig Kilometern auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Wäre ich etwas beweglicher, hätte ich mir in den Allerwertesten gebissen, als ich vor knapp einer Woche morgens verschnupft und mit Halskratzen aufgewacht bin. Was für ein Timing! Die darauffolgende Medikamenten-Crashkur hat zwar Schlimmeres verhindert, echte Besserung letztendlich aber doch nur vorgegaukelt. Und jetzt ist die Nase endgültig dicht. Der Sauerstoff scheint nicht mehr so recht durch die viel zu engen Bronchien in die Lungen gelangen zu wollen und mein Kopf droht, bei jedem Schritt zu detonieren. Kein Vorteil, wenn man gerade damit beschäftigt ist, einen Marathon zu absolvieren. Nach einer sehr guten ersten Wettkampfhälfte werde ich zunehmend langsamer, muss mir irgendwann eingestehen, dass ich mich offensichtlich in einem desolateren Zustand befinde als zunächst angenommen.
Schliesslich tue ich etwas Folgenschweres: ich bleibe stehen. Nur wenige Sekunden, nur für ein paar Schlucke Wasser und Cola an einem der Getränkestände. Doch das anschliessende Wiederanlaufen ist tödlich. Beinahe zwangsläufig folgen Krämpfe. Ich muss erneut halten, dehnen, dann stramm weitergehen, erneut Anlaufen. Eine Prozedur, die sich auf den letzten zehn Kilometern drei oder viermal wiederholen sollte. Mein Ziel, meine Vorjahreszeit vom Wienmarathon zu unterbieten, löst sich beinahe zeitgleich mit meiner Minimalanforderung, wieder unter der Vier-Stunden-Marke zu bleiben, in Wohlgefallen auf. Irgendwann biege ich auf die finale Meile ein. Die aufkeimende Erkältung lasse ich gottlob irgendwo auf dem nassen Hamburger Asphalt zurück – tausche sie aber gegen ein Plus von dreizehn Minuten ein, was unter den gegebenen Umständen aber allemal zu verkraften ist.
Trotzigkeit, die Dritte und Vierte: Simone und Stefan.
Läuft man einen Marathon in Zeiten von etwas mehr als drei Stunden, bewegt man sich als Freizeitsportler schon sehr weit oben in der Troposphäre. Und da wird die Luft bekanntlich dünn. Will heissen: in solchen Flughöhen (um die Metapher gleich noch ein weiteres Mal zu bedienen) entspricht jede Minute, um die man sich selbst nach unten korrigiert, einer überproportional grossen Leistungssteigerung. Wenn es einem dann aber gelingt, seine Bestzeit wie Stefan im vergangenen Jahr gleich um satte fünf Minuten zu reduzieren und sich auf einen Endstand von drei Stunden und zehn Minuten zu katapultieren, ist man fast dazu hingerissen, ein herzhaftes Eureka! auszustossen und leise von einer kleinen Revolution zu sprechen.
Eine Referenz, auf der man sich also durchaus ausruhen könnte. Aber sind Bestzeiten denn letztendlich nichts anderes als eine Form von Begrenzung? Und Grenzen gilt es schliesslich zu trotzen! Als ich Stefan nach dem Zieleinlauf wieder treffe, scheint er um einen ganzen Kopf gewachsen zu sein, trotz der schweren Finishermedaille, die um seinen Hals hängt. Als ich die Frage nach seiner Zielzeit stelle, weiss ich auch warum: drei Stunden, drei Minuten, sechsundvierzig Sekunden. Weiter sieben Minuten also, zerrieben und zerstreut irgendwo zwischen Reeperbahn und Alster. Es ist ein grandioses Ergebnis, welches sich nicht zuletzt auch noch in sehr guten Platzierungen in Altersklasse, Geschlecht und Gesamtrang wiederspiegelt.
Einen noch grösseren Vogel als Stefan aber schiesst an diesem Tag jemand anderes ab, und das hat weder mit atemberaubenden Zeiten noch Top-Platzierungen zu tun.
Es ist Sportfreundin Simone, die das Unfassbare schafft und damit einen Grossteil der Läufergemeinde in ihren Grundfesten erschüttern dürfte: Sie finished den Marathon, ohne dafür trainiert zu haben. Ja, richtig gelesen. Da ist zuerst die Anmeldung für den Hamburg Marathon im Dezember des Vorjahres (s. dazu unseren Vorbericht „warum man sich manche Dinge immer wieder antut“); dann jedoch, kurze Zeit später, eine anfangs leichte Erkältung, die sich im Laufe der Tage aber zu einer schweren Entzündung der Stirnnebenhöhlen auswächst.
Es folgt eine Behandlung mit Antibiotika, Krankschreibung, das volle Programm. Und: ein ärztlich verhängtes vierwöchiges Trainingsverbot. Das Aus für die geplante Teilnahme. Simone's Trainingskilometer im Jahr 2015 bis zu diesem Zeitpunkt: in der Summe weniger als eine Marathondistanz. Der vorhandene Startplatz scheint schnell wieder vergeben, potentielle Ersatzläufer gibt es im Umfeld zuhauf. Doch ein Zweiundvierzig-Kilometer-Lauf ist kein Spaziergang, die Gründe für Ausreden und Absagen erweisen sich als mannigfaltig.
So kommt es schliesslich, dass die Nummer F1980 auch eine Woche vor dem Start am 26. April noch immer keinen Abnehmer gefunden hat.Für Simone nicht weniger als eine Kampfansage: eine Herausforderung, die sich praktisch von selbst auf dem Silbertablett drapiert. Ein Marathon, kein Training. Eine Frau, ein Statement. Es sind mehr als fünf Stunden, die zwischen dem Augenblick des Starts und jenem des Überquerens der Ziellinie liegen. Aber das spielt keine Rolle. Zeiten verkommen zur Bedeutungslosigkeit angesichts einer solchen Courage. Simones Leistung ist ein beeindruckendes Zeugnis dessen, wozu ein eiserner Wille befähigt. Ihr Strahlen, ihre unbestechliche gute Laune, mit der sie die letzten Meter dieser Tour absolviert, ist ein ausgestreckter Mittelfinger in die Richtung aller Zauderer und Zögerer dieser Welt. Es ist der Lohn der Trotzigkeit.