Texte: Markus Zeidler; Bilder: Sportfreunde Attl, Michael Wagner
4 Millionen Schritte tun 6 Leute in der Summe, wenn sie zu Fuss von der Adriaküste über die Alpen bis nach Oberbayern in
die Stiftung Attl marschieren. Währenddessen verschleissen sie zusammen etwa 0,6 Quadratmeter Schuhsohle, verbrennen mehr als 400.000 Kalorien, verbrauchen 36.000 Milligramm Schmerzmittel, 1,5
Kilogramm Pferdesalbe und 36 Meter Pflaster und Tape, konsumieren 164 Espressi und 21 Flaschen Rotwein – und legen damit in 12 Tagen exakt 491 Kilometer und mehr als 10.000 Höhenmeter
zurück.
All dies sind freilich nur nackte Zahlen, die noch keinen wirklichen Rückschluss darauf zulassen, welche Anforderungen eine rustikale Alpenüberquerung mit Zelt und Rucksack tatsächlich an jemanden stellt: Wanderung? Schon während unseres langen gemeinsamen Trainings stellte sich diese Begrifflichkeit als genauso wenig zutreffend heraus, als würde man die Tour de France als Radl-Ausflug bezeichnen. Blasen an den Füssen? Hätte es Sportfreund Roland nur damit zu tun bekommen, wäre er nicht gezwungen gewesen, die Tour schon nach wenigen Tagen mit einem Besuch im Krankenhaus zu beenden. Warmwasser? Duschen? Häufig überschätzte Trends.
Folgen Sie den Sportfreunden Attl auf der folgenden Seite durch ein Abenteuer, das voller unzähliger Höhen und einigen wenigen Tiefen steckt, manchmal zwischen unbändiger Euphorie und restloser Erschöpfung pendelt, durch unbezahlbare Begegnungen am Wegesrand besticht und das einem - um unsere liebe Schirmherrin Birgit Lutz zu zitieren - alles abverlangt, um es einem später tausendfach wieder zurück zu geben.
„Wo liegen die grössten Schwierigkeiten dieser Tour?“ „Wie habt ihr Euch konkret darauf vorbereitet?“ „Und wer hatte eigentlich die Idee dazu?“ Diese und andere Fragen beantworten wir in einem Interview fürs Rosenheimer Fernsehen, das unser Freund Michael Wagner aus der Stiftung Attl am Rosenheimer Hauptbahnhof mit uns führt.
Es ist zwölf Uhr mittags am Tag X unserer Adria-Alpen-Attl-Tour.
Um uns herum türmt sich ein imposanter Berg an Ausrüstung: Rucksäcke, wasserdichte Packsäcke, zerlegte Wanderanhänger. Die Temperaturen lassen für Mitte Mai dramatisch zu wünschen übrig, und beim Gedanken an die kommenden Nächte in den Bergen sinken unsere inneren Thermometer gleich noch um ein paar Grad tiefer. Es dauert sechs Stunden, um mit dem Zug ins Touristen-Mekka Venedig zu kommen; der Weg zu Fuss zurück ein bisschen länger. "Wir sehen uns dann am Pfingstmontag bei der Zieleinlauf-Party in Attl!" schiebt Michael uns durch den sich schliessenden Spalt der Waggontür hinterher.
Das Hotel "Adua" in Venedig hält die letzten weichen Matratzen und die letzte heisse Dusche für die nächsten Tage für uns bereit. Die Mammut-Pizza, den Lambrusco und das Tiramisu brauchen wir dringend als Stärkung - nicht für den folgenden Tag, sondern für den abendlichen Spaziergang durch die Stadt. Dieser schweift in Ermangelung ausreichender Ortskenntnisse derartig aus, dass er unseren gewohnten Trainingseinheiten in nichts nachsteht. 400 Brücken soll es in der langsam versinkenden Stadt geben - ich bin absolut sicher, jede einzelne davon nicht nur gesehen, sondern auch überschritten zu haben. Zu dumm, dass wir unsere gelaufenen Kilometer erst ab morgen in Rechnung stellen können.
Die erste Etappe ist abgehakt – und damit das erste „A“ unserer Adria-Alpen-Attl-Tour. Mit schmeichelhaften 20° Celsius, einer stetigen lauen Brise und nur wenigen Höhenmetern können die
Rahmenbedingungen für den Start unseres Gewaltmarsches besser kaum sein.
Was die Streckenführung und die landschaftlichen Reize angeht, bleibt für die restlichen Etappen allerdings noch Luft nach oben: der Fussweg von Venedig heraus in Richtung Norden führt zum überwiegenden Teil am Rande hoch frequentierter Hauptverkehrsadern entlang, deren bröckelnde Seitenstreifen kaum breiter sind als einer unserer Wanderanhänger.
Die Herausforderung des ersten Tages liegt somit auch weniger in den 50 Kilometern Wegstrecke als vielmehr darin, unsere Tour nicht vorzeitig im Reifenprofil eines vorbeidonnernden Lkw’s zu beenden. Einmal müssen wir eine mehrspurige Autobahn mit annähernd brusthohen Leitplanken überqueren - mit unserem sperrigen Gepäck eine Angelegenheit für echte Adrenalin-Junkies. Das traumhafte Camp am Ufer des Piave und ein gutes Fläschchen Rotwein entschädigen aber grosszügig für den ein oder anderen unfreiwilligen Nervenkitzel.
Die geradezu provozierende Reizlosigkeit einer Wanderung auf italienischen Fahrbahnrändern bleibt uns auch auf den ersten Stunden der zweiten Etappe nicht erspart. Gegen Nachmittag können wir aber zumindest die erste Bergetappen-Luft auf unserer Tour schnuppern: die wunderbar steilen Strässchen hinauf zum Lago Santa Croce geben uns einen kleinen Vorgeschmack auf die vor uns liegenden Etappen - und zeigen uns, dass es ab vierzig Kilometern Tagesstrecke einfach "zaach" wird: Der Schweiss quillt uns aus den Poren, die Füsse brennen, die Hüftgurte reiben und die Rucksäcke drücken. Eingewöhnungsphasen sind manchmal zum Abgewöhnen...
Allerdings haben wir einen wichtigen Verbündeten auf unserer Seite: den Wettergott. Dieser entpuppt sich als echter Fan der Sportfreunde Attl und segnet uns - entgegen der Prognose - weiterhin mit dem besten Wetter, das man sich für so ein Projekt wünschen kann.
Ach ja, eine Kleinigkeit noch: Wir möchten uns hiermit bei all den Liebespärchen, deren amouröse Absichten wir durch unsere Anwesenheit am nächtlichen Lago Santa Croce fürs Erste einmal gründlich verhagelt haben, herzlich entschuldigen!
Was sich in den vergangenen beiden Tagen bereits unheilvoll ankündigte, wird heute zur schmerzlichen Gewissheit: Sportfreund Roland muss aufgeben. Seine Wasserblasen und wundgeriebenen Stellen haben sich schrecklich entzündet, und als er am späten Vormittag unter Höllenqualen seine Schuhe von den Beinen pellt, quellen Blut, Wasser und Eiter aus den offenen Wunden. Rolands Füsse haben sich im Verlauf der ersten beiden Etappen in rohe Fleischklumpen verwandelt. An Weitergehen ist unter keinen Umständen mehr zu denken. Roland muss nach Hause, und dann schleunigst ins Krankenhaus.
Am darauffolgenden Tag schickt er uns ein Foto aufs Handy, das ihn auf Krücken gestützt und mit dick einbandagiertem Fuss zeigt. Er nimmt Antibiotika und ist um Haaresbreite an einer ernsthaften Blutvergiftung vorbeigeschrammt. Dieser Vorfall verdeutlicht uns auf unmissverständliche Weise, dass sich schon die geringste Nachlässigkeit während der Tour gnadenlos rächen kann: nicht rechtzeitig gewechselte feuchte Socken, zu fest oder zu locker geschnürte Schuhe, ein verrutschtes Blasenpflaster, eine wetzende Einlegesohle und vieles andere mehr - jedes anfangs noch so unscheinbare Detail kann binnen Stunden das Aus bedeuten.
Wir schlagen unser Camp an diesem Abend in einer Kiesgrube auf und geniessen ein eiskaltes Bad im angrenzenden Fluss. Mit ein paar Dosen Bier stossen wir auf unseren Freund an, der so tapfer und hart gekämpft hat - und am Ende doch gescheitert ist.
Trotz unseres gestrigen Rückschlages sind sich alle Sportfreunde einig: Heute ist der Tag, an dem wir endgültig auf unserer Adria-Alpen-Attl-Tour „angekommen“ sind. Enge Serpentinensträsschen lösen nicht enden wollende Schnellstrassen ab, und die uns neuerdings umgebenden Traum-Panoramen entsprechen sehr genau dem Bild, das wir uns von dieser Alpenüberquerung ausgemalt hatten. Und ein Cappuccino in einem malerisch-verschrobenen Bergdörfchen schmeckt einfach eine ganze Hausnummer besser als ein Cappuccino in einem malerisch-verschrobenen Flachland-Dörfchen!
Da sich für die nächsten beiden Tage Dauerregen ankündigt, gönnen wir uns nach der heutigen kräftezehrenden Etappe durch die Dolomiten (unter anderem schinden wir uns über die 16 quälend langen Kehren des Passo San Antonio hinauf) ausnahmsweise den Luxus einer kleinen Pension im südtirolerischen Padola. Dass wir uns dafür die „Maribar“ ausersehen, erweist sich als eine der besten Entscheidungen der Tour: Man bereitet uns dort nicht nur einen herzerwärmenden Empfang, kredenzt uns Brotzeitplatten von einschüchternden Ausmassen und verköstigt uns mit Rotwein und Schnaps, sondern füttert obendrein auch noch grosszügig unsere Spendendose! Es ist eine feucht-fröhliche Nacht in der Maribar, voller lustiger Anekdoten, ausgelassener Stimmung und sich ständig aufs Neue füllender Gläser. Als wir später sogar kostenlos in der zugehörigen Pension übernachten dürfen und zu einem Grossteil der Zeche eingeladen werden, sind wir dermassen gerührt, dass wir am Ende der Tour beschliessen, unsere Wanderanhänger nach unseren beiden Gastgeberinnen zu benennen: Bruna und Tiziana. Begegnungen wie dieser machen alle Strapazen eines solchen Tages für immer vergessen.
Normalerweise hat Sportfreund Marco ja eher schlanke Waden. Auch seine Füsse würde ich mit Grösse 44 als nicht unbedingt auffällig überdimensioniert bezeichnen. Heute Morgen aber ist das anders: In Marco's Beinen hat sich mehr Wasser angesammelt als hinter dem Hoover-Staudamm, seine Fesseln sind zu Baumstämmen angeschwollen und die Füsse bizarr expandiert. Für Marco heisst das: die heutige Etappe muss leider mit Bus und Bahn zurückgelegt werden.
Wir anderen marschieren. Diesmal zur Abwechslung im Dauerregen. Zuerst geht es über steile und verschlammte Pfade hinauf zum Kreuzbergpass, später über den Stoneman-Trail und den Pustertaler Radweg nach Sexten, Innichen und schliesslich bis hinaus zu unserem Etappenziel, einem kleinen Örtchen mit dem schillernden Namen Abfaltersbach.
Bei dieser Gelegenheit wird uns auch wieder einmal bewusst, wie sehr sich die subjektive Wahrnehmung während so einer Tour verschiebt: zuhause im Alltag würde ich eine Laufeinheit von 12 Kilometern Länge und rund 500 Höhenmetern durchaus als ausgiebige Trainingseinheit bezeichnen - hier bewältigen wir solche Umfänge bereits vor der ersten Tasse Kaffee des Tages. Wir nisten uns am Abend wieder in einer kleinen Herberge ein, trocknen unsere tropfnassen Klamotten und hoffen, dass uns Marco auf der morgigen Etappe wieder begleiten kann.
Die heutige Etappe birgt gleich 2 gute Nachrichten. Erstens: Sportfreund Marco ist wieder an Bord. Nachdem seine Beine wieder menschliche Ausmasse angenommen haben und seine Füsse wieder in handelsübliches Schuhwerk passen, kann er die heutige Strecke wieder mitmarschieren. „Pfenningguad“, attestiert Sportfreund Martin. Und Zweitens: wir haben heute Nachmittag die Hälfte unserer Adria-Alpen-Attl-Tour hinter uns gebracht! 250 Kilometer zeigen die Tachos unserer Wanderanhänger bei der Bergankunft am Iselsbergpass an.
Unterwegs findet unsere Tour ungeheuren Zuspruch: wildfremde Menschen eilen neugierig zu uns herbei, erkundigen sich über unser Projekt, füttern anerkennend unsere Spendenbox oder bieten uns völlig uneigennützig eine Unterkunft für die Nacht an. So auch heute, als uns ein Landwirt in Winklern grosszügig den überdachten Stellplatz seines Fuhrparks zum Übernachten anbietet, weil der Wetterbericht starke Regenfälle vorhersagt. Kuhstall-Atmosphäre, frischen Speck und kaltes Bier gibts gratis mit dazu. Langstreckenwandern ist einfach wunderbar!
im Uhrzeigersinn, von oben links:
Die heutige Etappe von Winklern bis hinauf zur Tauernschleuse stellt einen echten Härtetest für die Sportfreunde dar. Nicht, dass die Strecke sonderlich anspruchsvoll wäre oder uns das derzeit beinahe minütlich wechselnde Wetter noch etwas ausmachen würde. Es ist nur einfach so, dass es während der ersten 8 Stunden des Tages keine Einkehrmöglichkeiten oder Supermärkte gibt, die nicht einen Umweg von 'zig Kilometern für uns bedeuten würden.
Und das heisst: Diät halten. Und schlimmer noch: kein Kaffee. Und ohne den funktionieren die meisten der Sportfreunde nicht so richtig. In solchen Fällen zeigt sich aber einmal mehr, wie wertvoll die Tatsache ist, Simon als Tour-Begleiter auf dem Mountainbike dabei zu haben. Neben seiner Kernaufgabe als Kameramann und Camp-Scout ist er uns heute eine unbezahlbare Hilfe bei der Futterbeschaffung: Als wir gegen Mittag total belämmert und mit reichlich erschöpften Akkus um die Ecke biegen, überrascht er uns mit warmen Leberkässemmeln und Dosenbier, das er im angrenzenden Bach für uns kaltgestellt hat. Wir könnten ihn umarmen! Tun wir dann auch.
Am Ende der heutigen Etappe wartet der lange Anstieg hinauf nach Mallnitz auf uns, von wo aus wir in den Zug durch die 14 Kilometer lange Tauernschleuse steigen. Am anderen Ende des Tunnels schlagen wir uns zuerst einmal so richtig die Bäuche voll und lösen unser Kaffee-Problem: in einem 4-Sterne-Hotel, in dem wir mit unseren verschwitzten und charakteristisch müffelnden Klamotten den grösst möglichen Kontrast zum restlichen Ambiente bilden. Die Nacht verbringen wir aber wieder in einer uns angemesseneren Umgebung: einem nahegelegenen Heustadel. Das bisherige Übernachtungs-Highlight der Tour!
Regen. Von oben, von der Seite, mal von links, mal von rechts. Dann wieder Sonne. Hitze. Neuer Regen. Aus neuen Richtungen. Neue Hitze. Regenkleidung an. Schwitzen. Regenkleidung aus. Nass werden. Regenkleidung wieder an - man weiss schon gar nicht mehr, was man anziehen soll! Nachdem wir uns das letzte Heu der vergangenen Nacht aus den Haaren gebürstet haben, trotten wir durch das Gasteiner Tal hinaus - und sind währenddessen hauptsächlich damit beschäftigt, unsere Klamotten den jeweils aktuellen Wetterbedingungen anzupassen.
Aber heute ist unsere Motivation eine ganz besondere: Wir erwarten nämlich Besuch. Michael Wagner aus der Stiftung Attl wird sich heute mit uns treffen und ein paar Interviews und Filmsequenzen mit uns abdrehen. Und er bringt jemanden mit: Sportfreund Roland ist wieder einigermassen auf dem Damm und lässt sich natürlich die Gelegenheit nicht nehmen, uns unterwegs Hallo zu sagen. Wir drehen ein paar Szenen für einen TV-Bericht, der morgen im RFO erscheinen soll. Nach einem leider viel zu kurzen Wiedersehen mit unseren Freunden müssen wir auch schon wieder los: wir setzen unsere Tour in Richtung Lend und weiter zum Hochkönig fort. Dabei machen wir eine neue psychische Grenzerfahrung: Das Durchwandern kilometerlanger Autotunnels. Soviel sei verraten: labilen Gemütern sei für solche Streckenabschnitte dringendst ein öffentliches Verkehrsmittel anzuraten!
Am Abend organisiert uns Simon ein weiteres Mal eine ganz besondere Übernachtungsmöglichkeit: eine Suite im Park-Hotel, mit Aussicht auf die grandiose Gebirgskulisse des Hochkönigs. Auf den derzeit ausgestorbenen Parkdecks des Dientener Skizentrums können wir uns grosszügig über mehrere Parkbuchten ausbreiten und zudem den Luxus der opulent ausgestatteten Toilettenräume nutzen. Und das Beste: Die Besitzer des benachbarten örtlichen Supermarkts schliessen uns weit nach Ladenschluss extra noch einmal auf, damit wir unsere Einkäufe fürs Abendessen tätigen können. Nie hat Shopping so viel Spass gemacht!
Als wir am Morgen des heutigen Tages aus unseren Schlafsäcken kriechen, können wir es kaum glauben:
Es regnet – NICHT. Dafür scheint die Sonne, und das recht ambitioniert. Obwohl es – abgesehen von einem ersten langen Anstieg – heute relativ moderat dahingeht, läuft uns der Schweiss schon bald in Strömen über die Körper. Ein paar kühlende Wasserläufe am Wegesrand schaffen gelegentliche Abhilfe.
Am späten Nachmittag trauen wir ein weiteres Mal unseren Augen nicht: Auf dem Radweg in Richtung Lofer kommt uns ein Biker entgegen, der haargenau so aussieht wie Roland. Derselbe Roland, der noch vor wenigen Tagen wegen einer schweren Beininfektion ins Krankenhaus musste. Der es also aus genau diesem Grund unmöglich sein kann. Dass es aber tatsächlich dieser Roland ist, erkennen wir daran, dass er uns schon wenige Sekunden später mit einer Flasche Rotwein in der Hand begrüsst. Der verrückte Hund hat sich tatsächlich mit dem Auto absetzen lassen und beabsichtigt nun, uns auf dem Rest der Tour mit dem Fahrrad zu begleiten! Wir verbringen die Nacht auf einem Kiesbett am Rande des eisigen Weissbach und feiern die Wiedervereinigung der Sportfreunde Attl.
Der TV-Beitrag im RFO (sowie mehrere Zeitungsartikel) über unsere Tour schlagen unerwartet hohe Wellen: Wir werden auf offener Strasse erkannt und angesprochen, wildfremde Menschen die uns im Supermarkt treffen oder uns aus dem Auto heraus erspähen, lassen sich mit uns fotografieren oder führen lange Gespräche mit uns. Sind das nicht..... Ja das ist doch.... Ist das nicht dieser Herr Lindner? Schauen Sie nur, diese Waden! Die öffentliche Resonanz auf uns und unser Projekt ist überwältigend. Dass dies selbst bis weit über das Ende unserer Tour hinaus so bleiben sollte, hätte an diesem Tag aber dennoch niemand von uns erahnt!
Die heutige Etappe ist eine wunderschöne Bergtour über die letzten Ausläufer der Alpen: Zuerst an der Saalach entlang, führt der Weg später von Unken aus über Forstwege und Bergsträsschen hinauf zur Winkelmoosalm und schliesslich nach Reit im Winkl. Am Schluss folgt ein steiniger, steiler Pfad hinauf zur Eckkapelle, der mit den voll bepackten Wanderanhängern und den schweren Rucksäcken eine echte Probe für unsere Kraftreserven darstellt. Am Abend erfahren wir wieder ein Paradebeispiel jener herzerwärmenden Gastfreundschaft, mit der wir auf unserer Tour schon so oft in Berührung gekommen sind: Als spät am Abend noch immer keine Schlafgelegenheit in Aussicht ist, bietet uns ein Ehepaar an, unsere Zelte auf dem weitläufigen Anwesen ihres Forsthauses aufzuschlagen. Wir können eine Biertischgarnitur nutzen und bekommen passend dazu auch gleich ein paar Bierchen in die Hand gedrückt. Zusammen mit unserem frisch gekauften, verteufelt heissen Einweg-Grill machen wir die heimelige Pfadfinder-Atmosphäre perfekt!
Um morgen beim Zieleinlauf in Attl einigermassen erholt auszusehen, gönnen wir uns heute einmal eine überschaubare Etappe mit gerade einmal 22 Kilometern - die Hälfte unserer gewohnten Tour-Distanzen. Wir marschieren ganz gemütlich von Oberwössen über Marquartstein nach Übersee am Chiemsee und setzen von dort mit dem Schiff zur Fraueninsel über. Die Übernachtung dort hat Sportfreundin Simone bereits vor einigen Wochen mit Kollegin Caro und dem Insulaner-Ehepaar Anneliese und Erich organisiert. Wir werden mit offenen Armen bei ihnen empfangen und dürfen unser Camp im Garten ihres Privathauses aufschlagen.
Wir verbringen einen herrlich dösigen Nachmittag in der warmen Mai-Sonne, geniessen ein Bad im Chiemsee und speisen Aal (Simone) und Räucherfisch (alle anderen) zu Abend. Wir sind ein bisschen wehmütig an diesem vorletzten Tag der Tour, sinnieren über die vergangene gemeinsame Zeit und darüber, wie schnell letztlich alles wieder vorüber ist. Wir haben den Adria-Alpen-Attl-Blues. Dennoch freuen wir uns riesig auf die letzten Kilometer, den Empfang in der Stiftung Attl - und natürlich auf das Wiedersehen mit all denjenigen, die so sehr an uns und unser Projekt geglaubt haben.
Überwältigung. Sprachlosigkeit. Überforderung. Tränen. Schieres Unvermögen, das unmittelbar Erlebte zu sondieren. Die Emotionen beim Zieleinlauf in der Stiftung Attl sind nur schwer in Worte zu fassen. Hunderte von Gästen – darunter unsere Freunde, Familien, Kollegen und Sponsoren – sind gekommen, um mit uns ein rauschendes Willkommensfest zu feiern. Die finalen Meter unserer Tour sind mit Kreide auf den Boden gemalt. Wir werden von einer Blaskapelle bis in den zentralen Innenhof des ehemaligen Klosters eskortiert, flankiert von Jubelrufen und lautem Klatschen. Es sind die besten 100 Meter unseres Lebens. Am Punkt „0“ der Adria-Alpen-Attl-Tour warten sieben Schüsseln mit Wasser auf unsere geschundenen Füsse. Und auf unsere ausgetrockneten Kehlen Birgit Lutz, die uns sofort mit selbst gezapftem Bier vom Fass versorgt. Im Verlauf der folgende Stunde werden Medaillen und Blumensträusse verteilt, und nachdem verschiedene Funktionäre lobende Worte auf die Sportfreunde Attl gesprochen haben, zerrt man schliesslich auch uns selbst auf die Bühne - wo ich mich zu meiner eigenen Verblüffung eine spontane und frei improvisierte Rede halten höre. Nicht einfach, wenn einen keiner vorwarnt und man ausserdem schon das ein oder anderer Bierchen im Kopf hat...
Am Ende unseres langen Weges steht das erhebende Gefühl, etwas bewegt zu haben. Nicht nur uns selbst. Wir waren Teil eines Projekts, dass weit grösser geworden ist als die vage Idee, die am Anfang stand. Und wer weiss, vielleicht ist uns ja auch das Höchste gelungen, das man mit einer solchen Aktion erreichen kann: Menschen zu inspirieren. So wie wir unsererseits oft durch die vielen wunderbaren Menschen inspiriert wurden, die wir vor, während und nach unserer Tour kennenlernen durften.
Wir sind losgezogen und sind wieder zurückgekehrt. Und hatten dazwischen einfach eine grossartige Zeit.