Text: Markus Zeidler; Fotos: sportograf, Sportfreunde Attl
Die Sportfreunde Attl treten zum zweiten Mal zum 24-Stunden-Ultralauf im Münchner Olympiapark an;
zum einen wollen Sie ihren Titel verteidigen, zum anderen weitere Spenden für die Stiftung Attl sammeln. Beides haben Sie mit breiter Brust angekündigt, nachdem sie vor erst einer Woche von ihrem 500 Kilometer langen Marsch über die Alpen zurückgekehrt sind. Die Beine sind noch schwer, Rolands dramatisch entzündeter Fuss gerade halbwegs verheilt. Trotzdem: das Viererteam in der Besetzung Stefan Schwarzenböck, Roland Schoderer, Florian Brunnhuber und Gabi Blüthner ist sich sicher, der Konkurrenz erneut den Rang abzulaufen. Simone Grönheit tritt abermals als Einzelläufer an. Trotz Knochenhaut-Verletzung am Schienbein, die sich auf den letzten Etappen der AAA-Tour zugezogen hat, wird sie versuchen, ihren Überraschungserfolg vom Vorjahr zu wiederholen. An ihrer Seite: Markus Zeidler. Dieser ist bis dato eigentlich Nicht-Läufer. Die grandiose Leistung seiner Sportfreunde bei der letztjährigen Erstausgabe des 24h-Laufs von München hat ihn aber derart inspiriert, dass er sich das Ganze nun kurzerhand selbst einmal antun möchte. Solo.
Seine Ziele dabei sind so verwegen wie dieser Entschluss selbst: Die 150-Kilometer-Marke knacken, keine Pausen machen, Top Ten erreichen. Wie es ihm bei seinem "walk on the wild side" ergeht, schreibt er hier:
Übelkeit, Kopfschmerzen, Benommenheit, gelegentliche Orientierungsstörungen, die Zunge trocken wie Bimsstein – mein gegenwärtiger Zustand deckt sich exakt mit der Beschreibung, die im medizinischen Handbuch rechts neben „Sonnenstich“ steht. Mit zitternden Knien lasse ich mich auf einem Gesteinsbrocken am Wegesrand nieder und harre ein paar Atemzüge lang im gnädigen Schatten eines Kastanienbaums aus. Es ist kurz nach 17 Uhr. Ich bin seit 36 Stunden wach, und die letzten 21 davon auf den Beinen - nicht im übertragenen, sondern buchstäblichen Sinn. Es ist erst das zweite Mal im Verlauf dieses Mammut-Marathons, dass ich meinen Marsch für etwas länger als die Dauer einer Pinkelpause unterbreche. Sporfreund Martin, der uns im Olympiapark besucht und mich während der letzten beiden Runden auf der Strecke begleitet hat, drückt mir eine kalte Cola in die Hand. „So bleich hab' ich den Markus noch nie gesehen“, wird er später über diesen Moment zu berichten wissen. Im Augenblick behält Martin seine Erkenntnisse aber für sich und versorgt mich stattdessen nicht nur mit koffeinhaltigem Zuckerwasser, sondern auch mit schmeichelhaften Phrasen aus dem verbalen Motivations-Baukasten.
Ultraläufe mit Schlafentzug gehören normalerweise nicht zu meinen regelmässigen Beschäftigungen; das trifft bei mir aber auch schon auf das Laufen im ganz Allgemeinen zu. Diese Art der Fortbewegung betreibe ich genaugenommen nämlich so gut wie nie. Ich möchte sogar behaupten, öfter zum Friseur als zum Joggen zu gehen. Wollte ich mich maximal weit aus dem Fenster lehnen, würde ich mich mit viel gutem Willen vielleicht noch als "Ganz-gelegentlich-halt-mal-so-ein-bisschen-Läufer" bezeichnen. Dass sich das schon bald ändern sollte, steht zur Zeit des 24h-Laufs im Juni 2012 noch auf einem anderen Blatt. Meine Teilnahme bei dieser Veranstaltung ist weniger eine sportliche Herausforderung als vielmehr ein Selbstversuch, ein Experiment.
Meine Taktik: wenig Laufen, umso mehr Marschieren. Damit kenne ich mich aus, haben wir doch immerhin erst kürzlich zu Fuss die Alpen überquert. Und dieser Plan scheint aufzugehen, hier im Olympiapark von München: meine angepeilten 150 Kilometer rücken in greifbare Nähe, und damit auch eine sehenswerte Platzierung. Auf richtige Pausen konnte ich wie geplant bisher ebenfalls verzichten: Essen, Trinken, wundgewetzte Oberschenkel behandeln – all das funktioniert auch ohne Anhalten. Lediglich nach der Halbzeit, kurz nach acht Uhr morgens, habe ich eine kleine „Unterbrechung“ eingeräumt: Klamottenwechsel, Schmerztablette, Toilette, Massage. 11 Minuten später war ich wieder zurück auf der Strecke - nur die Uhr bleibt weniger oft stehen als ich.
Auch jetzt muss ich wieder los. Martin flösst mir einen letzten Schluck aus der Colaflasche ein. Ich rappele mich hoch und taumle weiter in Richtung BMW-Welt. Eine weitere Runde über den Coubertinplatz und um den Olympiasee herum wartet auf mich, weitere Kilometer über harten Asphalt und gelenkzermürbendes Kopfsteinpflaster. Meine zweite und letzte Pause während dieses Wettkampfes hat ganze viereinhalb Minuten gedauert. Inklusive Sonnenstich. Es ist ein Spaziergang auf der wilden Seite.
Die Sportfreunde demonstrieren erneut ihren Kampfgeist und ihre Zähigkeit. Die einen, weil sie erneut an der Spitze stehen: unsere Viererstaffel um Roland und Stefan kann sich während der zweiten Hälfte des Wettkampfs absetzen und den Titel souverän verteidigen, trotz Vorbelastung und starker Konkurrenz.
Die andere, weil sie sich durchbeisst, bis wirklich gar nichts mehr geht: Simone bekommt die Probleme, die ihr angeschlagenes Schienbein verursacht, auch mit Schmerzmitteln und Bandagen nicht mehr in den Griff. Zutiefst enttäuscht muss sie aufgeben. Es ist kaum zu glauben, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt trotz ihres Handicaps mehr als fünfzig Kilometer weit gelaufen ist. Helden sterben langsam. Triumph und Enttäuschung liegen bei den Sportfreunden Attl in diesen Stunden nahe beieinander.
Die Solo-Läufer erkennt man in dieser späten Phase des Rennens nicht mehr nur an ihren Startnummern - es ist auch ihre unheimliche, zombiehafte Gesamterscheinung: hinkend, stolpernd, schmerzverkrümmt, apathischer Gesichtsausdruck und tiefliegende Augen. Manche haben dicke Krusten um die Mundwinkel. Auch wenn mittlerweile nur noch die wenigsten von ihnen wirklich laufen, gibt es doch den ein oder anderen, der es tatsächlich schafft von Anfang bis Ende einen gemässigten Trab zu halten - der spätere Sieger der Einzelstarter sollte mit Ablauf der 24 Stunden unfassbare 200 Kilometer zurücklegen.
Mehr noch als reine Laufleistung beeindruckt mich allerdings die Teilnahme einiger Kandidaten, die eigentlich noch weniger Lauf-affin sein dürften als ich; so treffe ich während meiner Runden beispielsweise hin und wieder auf einen Einbeinigen (der seine Prothese zum Ausruhen von Zeit zu Zeit abschnallt und mir bei einer dieser Gelegenheiten mit ebendieser frohgemut zuwinkt). Ein anderer Läufer hängt buchstäblich an seiner Begleiterin, mit einer kurzen Schlinge an der Hand - der Mann ist blind.
Es ist 19 Uhr 30, eine halbe Stunde vor Schluss. Ich zähle 149 gelaufene Kilometer. Völlig überrraschend liege ich mit weitem Vorsprung auf Platz 1 meiner Altersklasse. Um aber mein erklärtes Ziel – die Top Ten der Gesamtwertung – noch erreichen zu können, muss ich kurz vor Schluss zu einem für meine Verhältnisse recht unkonventionellen Mittel greifen: Laufen. Die aktuelle Nummer 10 schleppt sich mit schweren Beinen über den Parcour - in Sichtweite. Stefan muss mich vom Streckenrand aus anweisen, wie schnell, wie lange noch und sogar wohin ich laufen muss. Mein eigenes desolates Gehirn ist dazu nicht mehr in der Lage. Wenige Minuten später höre ich benommen und von irgendwo ganz weit her einen Countdown und schliesslich einen Schlusspfiff. Jubel, Applaus, Beifall. Im Zielgelände gibt es Verbrüderungsszenen, Tränen, Küsse, Ausdrücke unendlicher Erleichterung. Jemand bedeutet mir, mich nicht vom Fleck zu rühren; ein anderer legt im selben Moment ein Maßband zwischen meiner vorderen Fussspitze und der Ziellinie an. Simone schliesst mich fest in Ihre Arme, Roland stützt mich. Meine Beine drohen einfach wegzusacken. "Ich sei tatsächlich Zehnter geworden!" ruft Stefan triumphierend. Mit dreiundachtzig Metern Vorsprung, wie ich später den Ergebnislisten entnehme.
Also das mit dem Laufen hat schon was. Vielleicht sollte ich es tatsächlich mal öfter damit probieren...