Text: Markus Zeidler; Fotos: sportograf, Sportfreunde Attl
Ein paar von den "Sportfreunden Attl" hiessen mal "Sportfreunde Zeidler". Zumindest für die Dauer eines einzigen 24-Stunden-Ultramarathons. Dort trotzten sie nicht nur den Wetter-Unbilden und zeigten ihren physischen wie mentalen Grenzen den ausgestreckten Mittelfinger, sondern liefen der versammelten Konkurrenz auch gleich meilenweit davon.
Am Ende standen völlig unerwartet gleich 2 Treppchenplätze: Sieger beim Herren-Vierer (Stefan, Roland, Christian Thamm und Bernhard Weindl) und Platz 3 bei den Einzelläuferinnen (Simone).
Dass sie mal die "Sportfreunde Attl" sein würden, wussten sie damals noch nicht. Das kam erst ein paar Tage später, als sie ihren überwältigenden Erfolg gemeinsam mit mir als Namenspatron auf der Frasdorfer Hütte im Chiemgau nachfeierten. Bei viel zu viel Bier, Schnaps und Wein wurde nicht nur der Grundstein zur Adria-Alpen-Attl-Tour gelegt; als damaligen quasi-Nicht-Läufer haben mich die Fünf mit ihren Leistungen derart inspiriert, dass ich schon ein Jahr später selbst in München antrat - als Einzelläufer.
Der folgende Text ist weniger ein Artikel über ein Sportevent;
es ist eine Verneigung vor meinen persönlichen Superhelden
Einen Marathon bestreiten? Harte Angelegenheit – 42,195 Kilometer laufend zurückzulegen ist auch in Zeiten, in denen der Begriff „Extremsport“ geradezu inflationär überstrapaziert wird, fraglos eine unglaubliche Leistung. 24 Stunden lang durchmachen? Auch nicht einfach. Abhängig natürlich davon, welcher Beschäftigung genau man während dieser Zeitspanne nachgeht. Aber 24 Stunden lang durchmachen und dabei gleich mehrere Marathons absolvieren? Eigentlich kaum vorstellbar. Und für mich persönlich ein bisschen wie Superhelden-Fähigkeiten.
Die Rahmenbedingungen im Münchner Olympiapark sind wenig einladend am Abend dieses 1. Juni:
Nieselregen, Temperaturen wie kurz nach Allerheiligen und tiefhängende Wolkenwände ermuntern Athleten wie Zuschauer nicht gerade zu ekstasischer Begeisterung. "Nach den schweren Regengüssen heute Nacht soll es morgen Abend zum Zieleinlauf voraussichtlich wieder etwas aufklaren - aber - Papperlapapp!- wer vierundzwanzig Stunden lang Laufen kann, den wird so ein bisschen Pillepalle von oben vermutlich sowieso nicht kratzen - Haut rein Jungs, haut rein Mädels!"
Die überbordenden Motivationsparolen des Moderators, kehlig aus den Lautsprecheranlagen des Olympiaparks schallend, tragen nur unwesentlich zur Aufhellung der allgemeinen Stimmung bei.
Ich treffe am späten Vormittag zur zweiten Hälfte des Wettkampfs im Olympiapark ein und komme der schönen Aufgabe eines Namenspatrons nach, meinen Sportfreunden während ihres unglaublichen Dauerlaufs Beistand zu leisten. Christian, Stefan, Roland und Bernhard sind als Vierer-Staffel unterwegs, laufen abwechselnd immer wieder den etwa 3 Kilometer langen Rundkurs um den Olympiasee und durch die angrenzende BMW-Welt. Ihre ausgelaugten Gesichter erzählen von langen, harten Stunden auf Kopfsteinpflaster und Asphalt, von schmerzenden Muskeln, bleierner Müdigkeit und der Überdrüssigkeit von Energy-Drinks und Powerriegeln. Von einer kalten, nassen Nacht, während derer die letzten trockenen Kleidungsstücke zu hochgehandelten Aktien avancierten und die Geborgenheit eines feuchtklammen Schlafsacks während der Pausen das einzig erstrebenswerte Ziel während dieser Veranstaltung zu sein schien. Dennoch kann sich keiner der Vier ein Grinsen verkneifen: Die Jungs liegen in der Staffelwertung ganz vorne, mit komfortablem Vorsprung vor den Verfolgern!
Eine sensationelle Entwicklung, mit der vermutlich keiner der Beteiligten ernsthaft gerechnet hatte.
Und da kommt sie - meine "Sportfreundin" und Gefährtin Simone. Sie läuft seit 16 Stunden - alleine, unverdrossen und mit nur einer einzigen Pause dazwischen. Ihr Kopf hat den schmerzenden Körper längst besiegt, sie funktioniert wie ein Automat. Als ich sie zum ersten Mal seit gestern Mittag sehe, lacht sie mir entgegen, als komme sie gerade aus der Eisdiele und habe nicht soeben den achtzigsten gelaufenen Kilometer voll gemacht.
"Ich bin Dritte!" ruft sie fröhlich über den Platz. Sie werde jetzt aber nicht mehr laufen, kündigt sie an, sondern traben - oder etwas betreiben, das man auf gut bayrisch "Powerwalking" nennen könnte. Ein trefflicher Begriff, denn ich habe Mühe, für die Dauer einer einzigen Runde als Begleitung Schritt zu halten mit diesem Tempo und nebenher noch zu fotografieren.
Am Nachmittag fällt so etwas wie eine Vorentscheidung: Meine Sportfreunde haben in der Viererstaffel einen Vorsprung herausgearbeitet, der in den verbleibenden Stunden des Wettbewerbes nicht mehr eingeholt werden kann. In unserem Läufercamp an der Strecke, das im Wesentlichen aus zwei Kleintransportern, einer grossen Zeltplane und einem gefühlten Kubikmeter beissend müffelnder Laufbekleidung besteht, kommt Partystimmung auf. Bierflaschen werden gezückt, Anrufe getätigt. Eine Stunde vor dem ersehnten Schlusspfiff um 20 Uhr ist aller Schmerz, alle Qual vergessen: Wir gehen alle zusammen auf die letzte Runde, über die Ziellinie, nicht laufend, nicht powerwalkend, sondern spazierend, lachend, biertrinkend, uns gegenseitig beglückwünschend und umarmend. "Da sind sie, die Sportfreunde Zeidler, die Sieger dieses unglaublichen 24-Stunden-Marathons, sie haben wirklich aaaaaalles gegeben - herzlichen Glückwunsch! Der absolute Waaaahnsinn!" dröhnt es dieses Mal aus den Beschallungsorganen. Vor dem beckenhohen Absatz der Bühne stehen Trittschemel bereit, denn keiner der Teilnehmer schafft es an diesem Abend noch, die Beine erkennbar anzuheben. Simone bleibt Dritte bei den Damen, mit nur einer Runde Rückstand - und sage und schreibe 115 abgespulten Kilometern. Oder anders gesagt: nach fast drei Marathons am Stück.
So ist das eben mit Superhelden: Man muss gar nicht ins Kino gehen, um wieder mal einen zu sehen.
Manchmal trinkt man nach Feierabend einfach ein Bierchen mit Ihnen - oder wacht jeden Morgen neben einem auf.